Institut

für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN)


Navigation und Suche der Universität Osnabrück


Hauptinhalt

Topinformationen

Herzog August in seiner Bibliothek. Kupferstich von Conrad Buno (1650).

Wissensspeicher und Argumentationsarsenal

Funktionen der Bibliothek in den kulturellen Zentren der Frühen Neuzeit

Gemeinsames Promotionsprogramm gefördert vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB)  und des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück (IKFN)

Forschungsidee
Methodischer Ansatz
Auswahlbibliographie

Forschungsidee

Von dem italienischen Kulturhistoriker Umberto Eco stammt die frappierende Feststellung, dass eine Bibliothek viel mehr sei als eine Sammlung von Büchern: sie bildet nach Eco einen lebendigen Orga-nismus mit einem autarken Eigenleben („un organismo vivente con una vita autonoma“; Eco, 2001). William H. Sherman (1995), Experte der Buchkultur der Renaissance, gebraucht die Formulierung der „living library“ und spielt damit auf die komplexen in einer Bibliothek stattfindenden Interaktionen zwischen Buch und Leser an. Alain Dierkens (2002) spricht in seinem Beitrag „Les humanistes et leur bibliothèque“ von einem „organisme vivant“, wenn er Bibliotheken als Schauplatz konkurrierender Konzeptionen unterschiedlicher kultureller Modelle bezeichnet. Auf dieses dynamische Element in einer auf den ersten Blick statischen Institution wie der Bibliothek konzentriert sich das Graduiertenkolleg, welches das IKFN gemeinsam mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel durchführt.

Eine Büchersammlung, die den Namen Bibliothek verdient, ist immer mehr als eine zufällige Anhäufung von Büchern. In der Regel entsteht eine Bibliothek über einen langen Zeitraum von Jahren und befindet sich in einem permanenten Wandlungsprozess. Im Laufe dieser Genese können die Bestände einer Bibliothek erweitert – sie wachsen – oder durch Entfernung, Eliminierung, durch Zensur und Zerstörung verringert, ja zerstört werden. In Bewegung sind aber nicht nur die Bestände einer Bibliothek, sondern auch ihr Inhalt, der sich mit jedem neuen hinzugekommen oder entfernten Buch verändert. Bibliotheken sind neben Archiven und Museen exponierte Institutionen des kulturellen Gedächtnisses, in denen die Wissensbestände vergangener Epochen konserviert sind (Bödeker/ Saada, 2007; Arnold, 2010; 2011). Durch Bücher werden die Ausgangspunkte für Kontroversen von epochaler Bedeutung (z.B. konfessionelle und soziale Spannungen, Argumentationsverschiebungen in der Legitimation von Herrschaft) sowie angebotene – gelungene und gescheiterte – Lösungsmöglichkeiten historischer Konflikte dokumentiert. Als privilegierter Teil der kulturellen Ordnungsstruktur in gesellschaftlichen Systemen lassen sich an den Beständen einer Bibliothek Veränderungen in eben diesen Strukturen – kontinuierliche Entwicklungen ebenso wie Um- und Abbrüche – erforschen. Man kann eine Bibliothek als ein schier unendliches ideengeschichtliches Reservoir betrachten, in dem die Gravitationskräfte kultureller Identität, Memoria (Erinnern und Bewahren) und Lethe (Vergessen und Verdrängen), in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen (Assmann, 1992; Weinrich, 1997; Jochum, 2004; Heber, 2009).

Diese Reservoirs sind häufig verbunden mit den kulturellen – höfischen, städtischen, kirchlichen – Zentren einer Region. Die Etablierung solcher Institutionen ist Teil der Legitimationsstrategien von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Im höfischen Bereich dokumentiert die Anlage von Bibliotheken und Kunstkammern den Machtanspruch einzelner Dynastien (Bepler / Meise, 2010). Prachtvolle Ausstattung von Bibliotheksräumen und die Sammlung von Zimelien dienen der Repräsentation geistlicher und weltlicher Fürsten. Mit gutem Grund sprechen M. Baratin und C. Jacob (1996) von „Le pouvoir des bibliothèques“ im politischen Machtgefüge der Frühen Neuzeit. Seit Luthers reformatorischer Programmschrift An Burgermeyster vnd Radherrn allerley stedte ynn Deutschen landen (1524) gehört die Anlage von „guten Librareien oder Bücherhäusern“ zu den Hauptaufgaben einer kommunalen Gemeinschaft. Im konfessionellen Zeitalter werden Bibliotheken als „geistige Rüstkammern“ – als Arsenale von Argumenten – gesehen, die Material für die religiöse Auseinandersetzung mit den Gegnern liefern (Schmidt, 1990). Neben dieser Sicht der Bibliothek als Instrument in den religiösen Kontroversen steht das irenische Gegenmodell von Justus Lipsius, das die Bibliothek des Gelehrten als Ort sieht, in dem verschiedene Positionen durch Texte repräsentiert friedlich nebeneinander stehen und die intellektuelle Debatte stimulieren (Nelles, 1996) – eine vermittelnde Haltung, die der pragmatischen Einstellung der Vertreter der historia literaria sehr nahe kommt (Grunert / Vollhardt, 2007).

Mit der Formulierung „copia librorum“ (Werle, 2007) in der Frühen Neuzeit wird sowohl die Sammlung konkreter Bücher, die Speicherfunktion der Bibliothek, als auch im übertragenen Sinn der Aus-tragungsort intellektueller Kontroversen, die Funktion als Arsenal für Argumente, bezeichnet. Das Promotionsprogramm schließt mit der dezidierten Betonung des dynamischen Elements an aktuelle Tendenzen der „anthropologischen Bibliotheksgeschichte“ (Mittler, 2012) an. Den spezifischen Typen der Überlieferung – z.B. Hof-, Rats-, Kloster- und Privatbibliotheken von Adligen und Gelehrten – wird in den einzelnen kulturhistorisch orientierten Recherchen auf der Basis der rezenten Bibliotheksforschung Rechnung getragen (Adam, 1988; Canone, 1993; Gleixner, 2010; Hourcade, 2010; Zedelmaier, 2013). Dabei kann das 2012 am IKFN erarbeitete Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit als Ausgangsbasis für das avisierte Forschungsprogramm des Graduiertenkollegs betrachtet werden. In jedem der 51 Artikel zu den Residenzen und urbanen Knotenpunkten des Alten Reichs wird unter der Rubrik „Wissensspeicher“ konkret die Situation der bibliothekshistorischen Überlieferung beschrieben. Aufbauend auf diesem breiten Fundament ist es möglich, in Dissertationen Bibliotheken der verschiede-nen kulturellen Zentren unter vergleichender Perspektive zu analysieren.

Methodischer Ansatz: Interdisziplinarität

Aufgrund dieser vielschichtigen Dimensionierung, deren Vermessung die Kompetenz mehrerer Fächer erfordert, wird die Institution der Bibliothek zu dem Laboratorium par excellence für eine sich interdisziplinär verstehende Frühneuzeit-Forschung (Zedelmaier / Mulsow, 2001; Adam, 2008). Der Problematik des Forschungsansatzes der „Interdisziplinarität“, der im Titel des Osnabrücker Interdis-ziplinären Instituts für die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit erscheint, wird bei der Konzeption des Promotionsprogramms Rechnung getragen. Die Ergebnisse der internationalen Diskussion um die Verfahren der Trans- und Interdisziplinarität (z.B. Maillard / Bothorel-Witz, 1998) werden reflektiert, das geplante Projekt sieht sich dem Prinzip einer „riskanten Interdisziplinarität“ (Wertheimer, 2003) verpflichtet.

Interdisziplinäre Forschung wird in diesem Kontext nicht als Addition von epistemologischen Ansätzen der einzelnen Fächer verstanden, sondern erstrebt sind Synergieeffekte: In der Begegnung mit der Forschungskultur anderer Disziplinen sollen die Theoreme des eigenen Faches überprüft und gegebenfalls neu definiert werden. Theoretisch werden insbesondere aktuelle Ansätze der ideenge-schichtlichen Forschung aufgegriffen, der in Wolfenbüttel durch die Mitherausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte ein besonderer Stellenwert zukommt. Durch die Konzentration auf den Überliefe-rungsträger „Buch“ bestehen engste Verbindungen zu dem gegenwärtig mit Verve diskutierten For-schungsansatz der Analyse der materiellen Kultur im sozialhistorischen Kontext, wie dies z.B. die aktuelle Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Förderschwerpunkt Die Sprache der Objekte dokumentiert. Ein gedruckter Text kann Orientierung in konfessionellen und ethischen Fragen bieten, er vermittelt allgemein akzeptierte Wertvorstellungen oder skizziert Gegenpositionen zur opinio communis einer Gesellschaft. Das Buch wird zu „einer Erkenntnismaschine, die das geistige Vermögen dessen, der es in Händen hält, erheblich steigert“ (Enenkel / Neuber, 2005).

Auswahlbibliographie

  • Adam, Wolfgang: Privatbibliotheken im 17. Und 18. Jahrhundert. Fortschrittsbericht (1975-1988), in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15 (1990), S. 123-173.
  • Adam, Wolfgang: Bibliotheksgeschichte und Frühneuzeit-Forschung. Bilanz und Perspektiven am Beispiel des Nachlassverzeichnisses von Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen, in: Euphorion 102 (2008), S. 1-38.
  • Adam, Wolfgang / Westphal, Siegrid (Hg.): Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, 3 Bde., Berlin / Boston 2012.
  • Arnold, Werner: Die Entstehung der Bibliothek aus dem Netzwerk, in: Merziger, Patrick, u.a. (Hg.): Geschichte, Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2010, S. 9-24.
  • Arnold, Werner: Die Entstehung der Bibliothek aus dem Netzwerk. Über den Aufbau der Bibliothek Herzog Augusts d.J. zu Braunschweig und Lüneburg im 17. Jahrhundert. Ein Projektbericht, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 38/1 (2011), S. 1-35.
  • Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.
  • Baratin, Marc / Jacob, Christian (Hg.) : Le pouvoir des bibliothèques. La mémoire des livres en Occident, Paris 1996.
  • Bepler, Jill / Meise, Helga (Hg.): Sammeln, Lesen, Übersetzen als höfische Praxis der Frühen Neuzeit. Die böhmische Bibliothek der Fürsten Eggenberg im Kontext der Fürsten- und Fürstinnenbibliotheken der Zeit, Wiesbaden 2010.
  • Bödeker, Hans Erich / Saada, Anne (Hg.): Bibliothek als Archiv, Göttingen 2007.
  • Canone, Eugenio: Bibliothecae selecta da Cusano a Leopardi, Firenze 1993.
  • Dierkens, Alain : Les humanistes et leur bibliothèque : quelques considérations generales, in : De Smet, Rudolf (Hg.) : Les humanistes et leur bibliothèque. Actes du Colloque international, Bruxelles, 26-28 août 1999, Leuven u.a. 2002, S. 259-267.
  • Eco, Umberto: Riflessioni sulla bibliofilia, Milano 2001.
  • Enenkel, Karl A.E. / Neuber Wolfgang (Hg.): Cognition and the book. Typologies of formal organisation of knowledge in the printed book of the early modern period, Leiden 2005.
  • Gleixner, Ulrike: Die lesende Fürstin. Büchersammlungen als lebenslange Bildungspraxis, in: Juliane Jacobi u.a. (Hg.): Vormoderne Bildungsgänge, Selbst- und Fremdbeschreibung in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2010, S. 207-223.
  • Grunert, Frank / Vollhardt, Friedrich (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. Und 18. Jahrhundert, Berlin 2007.
  • Heber, Tanja: Die Bibliothek als Speichersystem des kulturellen Gedächtnisses, Marburg 2009.
  • Hourcade, Philippe : La Bibliothèque du Duc de Saint-Simon et son cabinet de manuscrits (1693-1756), Paris 2010.
  • Jochum, Uwe: Am Ende der Sammlung. Bibliotheken im frühmodernen Staat, in: Dülmen, Richard van / Rauschenbach, Sina (Hg.): Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesell-schaft, Köln 2004, S. 273-294.
  • Maillard, Christine / Bothorel-Witz, Arlette (Hg.) : Du dialogue des disciplines : germanistique et interdisciplinarité, Strasbourg 1998.
  • Mittler, Elmar: Anthropologische Bibliotheksgeschichte. Umriss eines Forschungsfeldes, in: Umlauf, Konrad / Gradmann, Stefan (Hg.): Handbuch Bibliothek. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stutt-gart / Weimar 2012, S. 287-292.
  • Nelles, Paul : Juste Lipse et Alexandrie : les origines antiquaires de l’histoire des bibliothèques, in : Baratin, Marc / Jacob, Christian (Hg.) : Le pouvoir des bibliothèques. La mémoire des livres en Occident, Paris 1996, S. 224-242.
  • Schmidt, Gerd: Waffenlärm und Grabesstille. Buch und Bibliothek im Spiegel der Metapher, in: Philobiblon 34 (1990), S. 3-12.
  • Sherman, William H.: A Living Library: The Bibliotheca Mortlacensis Revisited, in: Sherman, William H.: John Dee. The Politics of Reading and Writing in the English Renaissance, Amherst (Mass.) 1995, S. 29-52.
  • Weinrich, Harald: Lethe – Kunst des Vergessens, München 1997.
  • Werle, Dirk: Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580-1630, Tübingen 2007.
  • Wertheimer, Jürgen: Germanistik, in: Keisinger, Florian / Seischab, Steffen (Hg.): Wozu Geistes-wissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte, Frankfurt a.M. / New York 2003, S. 131-135.
  • Zedelmaier, Helmut / Mulsow, Martin (Hg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001.
  • Zedelmaier, Helmut: Buch und Wissen in der Frühen Neuzeit, in: Rautenberg, Ursula (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, Berlin / Boston 2013, S. 503-533.